Tag 81 - heute ist wieder alles anders

Hallo meine Lieben!

Heute ist wieder alles anders. Meine gestrige Euphorie ist wie weggeblasen. Ich habe heute schon mehrere Absagen von Herbergen, usw. erhalten wegen Covid-19. Die Aussicht darauf, dass in Spanien schon große Bereiche des Jakobsweges im Lockdown sind und es auch in Frankreich immer mehr wird, ich also höchstwahrscheinlich früher oder später abbrechen muss, demotiviert mich. Ich habe heute Morgen viele Für und Wider abgewogen. 

Für den Abbruch steht bestimmt,... 

1)... dass es spät im Jahr ist, wodurch es weniger lange hell ist und ich evt. weniger von der Umgebung mitbekomme und auch zeitlich mehr Beschränkungen habe, um von A nach B zu kommen

2)... dass es jahreszeitlich bedingt sowieso nur wenige Unterkünfte gibt, die geöffnet hätten (wobei durch Covid eben auch diese noch weniger werden) und es für die Ausrüstung, die ich mittrage zu kalt zum Campen ist

3)... dass es das Risiko einer Ansteckung gibt bzw. dass ich unbemerkt Überträger sein könnte 

4)... dass es definitiv ein Kostenpunkt ist, von wo aus ich heimreise (Genf - Graz 30€, Le Puy en Velay- Graz ~200€)

5)... dass ich keine oder nur sehr wenige andere Pilger treffe, wodurch mir viele wunderbare Begegnungen und Gespräche, die den Jakobsweg unter anderem zu dem machen, was er ist, entgehen 

Gegen einen Abbruch steht...

1)... dass ich durch meine Bildungskarenz JETZT die Zeit habe

2)...dass ich es schon so weit geschafft habe

3)...es trotz allem ein wunderbares Erlebnis ist

4)...ich noch mehr mit mir selbst, meinen Ängsten, Sorgen, Gedanken, Problemen, usw. in Berührung komme

5)...ich noch gehen könnte, auch wenn es schwieriger wäre (aber ich bin nicht durch ein Gesetz o. Ä. dazu gezwungen abzubrechen)

6).... es Mittel und Wege gäbe, es trotzdem durchzuziehen


Ich bin enttäuscht, traurig und genervt. Es fühlt sich wieder nach Aufgeben und Versagen an. 

Aber es ist das Vernünftigste abzubrechen. 


Ich bin euch noch den letzten Eintrag schuldig. 

Nachdem ich vor der Kirche in Neydens diesen Eintrag verfasst und mir von meinen Freunden und meiner Familie Beistand und Rat geholt hatte, trat ich schweren Herzens den Rückweg an. Zu Fuß wieder zurück über die Grenze, zurück nach Genf und zum Bahnhof. Der Himmel zeigte sich solidarisch und weinte mit mir.

Um 16 Uhr stieg ich in den Zug nach Zürich, um von dort mit dem Nachtzug nach Graz zu fahren.

Es fühlte sich merkwürdig an. 

Im Zug nach Graz teilte ich mir das Abteil mit Peter, dem (wie er mir mit der Namensgebung zuvor gekommen ist) kärntnerisch sprechenden, Schweizer Wegbereiter. Als hätte der "Jakobswegzauber" noch auf mir gelegen, ergab sich auch hier nach kürzester Zeit ein sehr ehrliches, offenes Gespräch über bewegende und ergreifende Situationen, Erlebnisse, Ansichten,... 

In Vorarlberg stieß Cornelius zu uns und baute (oder wurde eingebaut) in unser Gespräch ein. Schon wunderlich. Ich dachte, diese Art der Begegnungen würde am Jakobswegflair liegen. Aber anscheinend liegt es mehr daran, wie sehr man bereit ist, auf den belanglosen Smalltalk zu verzichten und offen über die Angelegenheiten zu sprechen, die einen bewegen.

Ein passender (vorläufiger) Abschluss meiner bisherigen Reise mit zwei wunderbaren Begegnungen..

 

Nachdem wie sich die Situation seit meinem Abbruch entwickelt hat (erneuter Lockdown + Terroralarm in Frankreich), war es die richtige Entscheidung, heimzukehren. Und ich möchte euch allen nochmal herzlich danken, dass ihr mit dabei ward, dass ihr mitgefiebert habt, mir so herzliche Kommentare hinterlassen habt und mir in den richtigen Momenten Beistand geleistet habt! Vielen Dank! 

ERKENNTNIS des Tages:

 

Jeder Tag hat seine Licht-und Schattenseiten. Lass zu, dass Menschen, die dir begegnen dein Licht sind oder du das Licht sein darfst.